Barthold Heinrich Brockes (1680-1747)
Von Marlies Buchholz
Wie gedenkt eine Stadt ihrer toten Dichter? Nun, jedenfalls indem sie eine Straße nach ihnen benennt. Wenn man den Hamburger Hauptbahnhof verlässt, rüber zum ZOB gehen möchte, stößt man gleich auf die Brockesstraße. Das ist vielleicht die kürzeste Straße in Hamburg, sie hat nicht eine Hausnummer. Aber der Dichter, an den sie erinnert, hat sicher die längsten Gedichte geschrieben, die es in deutscher Sprache so gibt. Und es sind vergnüglich zu lesende Gedichte! Sie füllen drei dicke Bände, zu deren Herausgabe der VHG sogar ein Scherflein beigetragen hat. "Irdisches Vergnügen in Gott" ist ihr gemeinsamer Titel. Er hat selbst ein Gedicht zu seinem 65. Geburtstag geschrieben. Das können wir nicht nachholen, aber wir gedenken seiner an seinem 330. Todestag.
Barthold Heinrich Brockes war ein Glückskind. Er war betucht und er war begabt, und er war offenbar ein Mensch, der beides zu genießen, zu nutzen und zu danken wusste. Er hatte es nicht nötig, einen Brotberuf auszuüben, aber er hat seiner Vaterstadt in vieler Hinsicht gedient, er wurde in den Rat gewählt und war oft in diplomatischer Mission unterwegs, er war auch Amtmann in Ritzebüttel, heute einem Stadtteil von Cuxhaven. Er besaß ein Landhaus mit einem schönen Garten, es lag dort, wo sich heute der Besenbinderhof befindet. Brockes hat auch Übersetzungen gemacht und Aufsätze in einer Zeitschrift veröffentlicht. Seine Gedichte aber sind ein ganz bedeutender Beitrag zur Naturlyrik in deutscher Sprache. Sie stehen sicher in der Nachfolge von Paul Gerhardts "Geh aus mein Herz und suche Freud", aber während Paul Gerhardt Lerche und Nachtigall nur benennt, um dann sogleich wieder seine Betrachtung ins Geistliche zu wenden, wird bei Brockes ein einzelner Gegenstand mit Genauigkeit beobachtet, detailliert und schattiert geschildert, sei es eine Allee, ein Schmetterling, das Treibeis, der Kürbis, der Wassertropfen – das Subjekt wird eingewirkt in die Natur und auch dem Leser werden die Sinne geschärft. Erst dann wird der Blick wieder "nach oben geklappt", von der schönen Schöpfung auf den Schöpfer geschlossen.
Eine poetische Kostprobe:
Kirschblüte bei der Nacht
Ich sahe mit betrachtendem Gemüte
Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte,
In kühler Nacht beim Mondenschein;
Ich glaubt, es könnte nichts von größrer Weiße sein.
Es schien, ob wär ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der kleinste Ast
Trug gleichsam eine schwere Last
Von zierlich runden weißen Ballen.
Es ist kein Schwan so weiß, da nämlich jedes Blatt,
Indem daselbst des Mondes sanftes Licht
Selbst durch die zarten Blätter bricht,
Sogar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.
Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden
Was Weißers angetroffen werden.
Indem ich nun bald hin bald her
Im Schatten dieses Baumes gehe,
Sah ich von ungefähr
Durch alle Blumen in die Höhe
Und ward noch einen weißren Schein,
Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar,
Fast halb darob erstaunt, gewahr.
Der Blüte Schnee schien schwarz zu sein
Bei diesem weißen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht
Von einem hellen Stern ein weißes Licht,
Das mir recht in die Seele strahlte.
Wie sehr ich mich im Irdischen ergetze,
Dacht ich, hat Gott dennoch größere Schätze.
Die größte Schönheit dieser Erden
Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.
Quellen und Literatur zum Thema in der VHG-Bibliothek:
Loose, Hans-Dieter (Hg.): Barthold Heinrich Brockes (1680-1747). Dichter und Ratsherr in Hamburg. Neue Forschungen zu Persönlichkeit und Wirkung.
A.I.2./008.16
Hindrichson, Georg: Brockes und das Amt Ritzebüttel. 1735-1741, Teil 1 und 2. In: Staatliche Realschule mit Latein-Abteilungen zu Cuxhaven. Bericht über das VI. und VII. Schuljahr 1896/97.
A.III.6.e /064
Brockes, Barthold Heinrich: Spuren der Gottheit. Ausgewählte Gedichte. Hg. von Willy Krogmann. Mit Ill. und 1 Faksimile.
A.XI.07.a/021
Brockes, Barthold Heinrich: Selbstbiographie. Verdeutschter Bethlehemitischer Kinder-Mord. Gelegenheitsgedichte. Aufsätze. Hg. Jürgen Rathje.
A.XI.07.a/021a
Brockes, Barthold Heinrich: Eine Auswahl seiner Gedichte. Auswahl und Vorwort von Eckart Kleßmann.
A.XI.07.a/022
Guntermann, Georg: Die Welt im Licht. Aus den Werken des Ratsherren Barthold Heinrich Brockes.
A.XI.07.c/021
Kleßmann, Eckart: Barthold Hinrich Brockes (Hamburger Köpfe).
A.XIV.2/0001
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