Griff in die Geschichte (61)
Einst bewundert und gefeiert – dann vertrieben und beschwiegen.
Anmerkungen zum 150. Geburtstag des Juristen Albrecht Mendelssohn Bartholdy
von Rainer Nicolaysen
Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874-1936), Ururenkel des Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn und Enkel des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy, zählt zu den bedeutendsten Gelehrten in der Geschichte der Hamburger Universität. Als ordentlicher Professor für Zivilrecht, Auslandsrecht und Internationales Privat- und Prozessrecht gehörte er ihr von 1920 bis zu seiner Zwangsemeritierung 1933 an. Insbesondere in diesen dreizehn Jahren erlangte er nicht nur als Jurist, sondern auch als Leiter des Instituts für Auswärtige Politik internationales Renommee. Unter den Professoren gehörte Mendelssohn Bartholdy zu den wenigen entschiedenen Verfechtern der Weimarer Demokratie, die er auch auf ausländischem Parkett wirkungsvoll zu repräsentieren wusste.
Am 25. Oktober 1874 in eine der bekanntesten deutschen Bankiers-, Gelehrten- und Künstlerfamilien hineingeboren, hat Albrecht Mendelssohn Bartholdy zeitlebens die eigene Rolle in der Tradition der Mendelssohns reflektiert, wobei er trotz der drei Generationen zurückliegenden Konversion zum Christentum auch die jüdischen Wurzeln seiner Familie betonte. Nach dem Abitur in seiner Geburtsstadt Karlsruhe studierte er Rechtswissenschaft an den Universitäten Leipzig, Heidelberg, München und wiederum Leipzig, wo der 22-Jährige 1897 mit einer Arbeit zur Auslegung der Zivilprozessordnung bei seinem Onkel Adolf Wach promoviert wurde. Vier Jahre später habilitierte er sich ebenfalls in Leipzig und erhielt 1905 eine ordentliche Professur für Zivilprozessrecht und Bürgerliches Recht an der Universität Würzburg. Im selben Jahr heiratete er seine Cousine Dora Wach.
In seiner Würzburger Zeit profilierte sich Mendelssohn Bartholdy mit zahlreichen Veröffentlichungen zum englischen Recht als der bedeutendste Experte auf diesem Gebiet in Deutschland. Neben seiner juristischen Karriere lebte er, der am liebsten Dirigent geworden wäre, aber stets auch seine künstlerische Ader. Bereits als Student hatte er 1896 gemeinsam mit Carl von Arnswaldt den von Rilke positiv rezensierten Gedichtband „Schmetterlinge“ veröffentlicht, dem eigene Opernlibretti und Liedkompositionen folgten. Im Jahre 1912 war Mendelssohn Bartholdy Mitbegründer der Würzburger Volkskonzerte, in denen der vielfach Talentierte auch als Pianist auftrat. Das 1. Mainfränkische Musikfest 1914 verdankte sich ebenso seiner Initiative wie die Max-Reger-Gedächtniskonzerte in Würzburg 1916/17.
Der Erste Weltkrieg bildete auch für Mendelssohn Bartholdy eine Zäsur in seinem Leben – und er politisierte ihn. Bei Kriegsbeginn 1914 teilte er, obgleich durchaus patriotisch gesinnt, nicht die Begeisterung weiter Teile seiner Umgebung. Stattdessen engagierte er sich im Laufe der folgenden Jahre humanitär: in der Betreuung ausländischer Kriegsgefangener, in der Invalidenhilfe und bei der Vermisstensuche; mitten im Krieg auch adoptierte das Ehepaar Mendelssohn Bartholdy 1916 ein fünf Monate altes Mädchen – und 1920 ein weiteres.
Den Weg in eine parlamentarische Demokratie begrüßte Mendelssohn Bartholdy bei Kriegsende ausdrücklich. Im November 1918 gehörte er zu den Gründern der Würzburger Volkshochschule, im Jahre 1919 erschien seine Schrift über den „Volkswillen“ zu grundlegenden Fragen einer demokratischen Verfassung. Für das Frauenwahlrecht hatte er sich schon vor dem Krieg eingesetzt und auch die englische Suffragetten-Bewegung öffentlich verteidigt.
Im Mai 1919 wurde Mendelssohn Bartholdy von der neuen Reichsregierung in die deutsche Delegation bei den Friedensverhandlungen in Versailles berufen, wo er mit Max Weber, Hans Delbrück und Max Graf Montgelas das sogenannte Professorengutachten verfasste, die deutsche Protest-Antwort auf den Artikel 231, der die Schuld Deutschlands und seiner Verbündeten am Ersten Weltkrieg festschrieb, um daraus entsprechende Forderungen abzuleiten. Die Bestimmungen des Versailler Vertrags hielt Mendelssohn Bartholdy für unzumutbar; auch er unterschätzte damals allerdings den tatsächlichen Grad der deutschen Verantwortung für den Kriegsbeginn 1914.
Im Sommer 1920 siedelte Mendelssohn Bartholdy mit seiner Familie nach Hamburg über, in jene Stadt, in der Moses Mendelssohn 1761 seine spätere Frau Fromet kennengelernt hatte und zwei Generationen später Felix und Fanny Mendelssohn Bartholdy geboren worden waren. An der 1919 gegründeten Hamburgischen Universität erhielt Albrecht Mendelssohn Bartholdy den Lehrstuhl für ausländisches Recht, der für ihn eingerichtet worden war. Ebenso ganz auf ihn als Leiter zugeschnitten war das 1923 mit maßgeblicher Förderung des Hamburger Bankiers Max Warburg von Senat und Bürgerschaft errichtete Institut für Auswärtige Politik – das erste politikwissenschaftliche Institut in Deutschland und eines der weltweit ersten Institute zur Erforschung internationaler Beziehungen und Friedensbedingungen. Zwar sollte die Kriegsursachenforschung auch hier die Revisionsbestrebungen gegenüber dem Versailler Vertrag unterstützen, aber von Anfang an war das Institut auch einer auf längere Sicht angelegten Friedensforschung und -sicherung verpflichtet. Als Ziele formulierte Mendelssohn Bartholdy: die wissenschaftliche Feststellung der diplomatischen Methoden der jüngsten Geschichte, die Beobachtung aktueller Außenpolitik und ihrer Hintergründe sowie die Entwicklung von Richtlinien für eine „stetige, wirksame und dem Frieden dienende Außenpolitik“.
Bald als „Mendelssohn-Institut“ bekannt, besaß die Einrichtung, die ab 1924 in der „Alten Post“ untergebracht war, eine große Bibliothek sowie ein umfangreiches Zeitungsausschnittarchiv; Lehrgänge und Vorträge wurden hier veranstaltet und die international bedeutende Zeitschrift „Europäische Gespräche“ sowie viele andere Publikationen herausgegeben. Die Zusammensetzung des Mitarbeitstabes repräsentierte in damals ungewöhnlicher Weise das demokratische Weimar. Zeitweise tätig waren hier etwa Alfred Vagts, Theodor Haubach, Hans von Dohnanyi, Siegfried Landshut, Wolfgang Hallgarten, Fritz Morstein Marx – sowie Mendelssohns engste Mitarbeiterin Magdalene Schoch, die sich dann 1932 bei ihm als erste Juristin in Deutschland habilitierte.
In der Doppelfunktion als Ordinarius an der Universität und Leiter des eigenen Instituts erreichte Mendelssohn Bartholdy in Hamburg den Höhepunkt seines vielseitigen Schaffens, das in weit über 500 Publikationen und mehr als 20.000 meist handschriftliche Briefe mündete. National wie international war der Gelehrte ein gefragter Experte. Seine Tätigkeit in Hamburg war geprägt von starker öffentlicher Präsenz; die Foren reichten von der Volkshochschule bis zum Überseeclub. Im August 1923 hielt er die offizielle Rede zum Verfassungstag im Hamburger Rathaus; sechs Jahre später übernahm er die gleiche Aufgabe in Altona. Im Ausland wirkte Mendelssohn Bartholdy für das demokratische Deutschland als „Versöhnungsdiplomat“. Die Reichsregierung ernannte ihn 1925 zum ersten deutschen Richter am Internationalen Schiedsgericht in Den Haag zur Auslegung des Dawes- Plans und entsandte ihn 1931 als deutschen Delegierten in die Bundesversammlung des Völkerbunds. Aufgrund seiner erfolgreichen Vortrags- und Verständigungstätigkeit in den USA erhielt er 1927 die Ehrendoktorwürde der Harvard University und 1929 die der University of Chicago. Im selben Jahr gehörte er in Hamburg zu den Gründungsmitgliedern der „Gesellschaft der Freunde der Vereinigten Staaten“, deren Zeitschrift, die „Hamburg Amerika Post“, den bezeichnenden Untertitel trug: „A messenger of good will between the United States and Germany“. Dank Mendelssohn Bartholdys Initiative war die Hamburger Universität für das Studium des amerikanischen Rechts führend unter den deutschen Hochschulen geworden.
Die Erfolgsgeschichte Mendelssohn Bartholdys in den 1920er Jahren war allerdings brüchig und gefährdet, vor allem durch antisemitische Anwürfe. Als ihn die juristische Fakultät in Bonn 1925 berufen wollte, lief der berüchtigte Staatsrechtler Carl Schmitt Sturm gegen die Nominierung des Hamburger Kollegen und verfasste das entscheidende „Sondergutachten gegen die Berufung“, in dem er Mendelssohn Bartholdy einen „widerlichen, feigen, dilettantischen Juden“ und „Schöngeist“ nannte. Angriffen war Mendelssohn 1932 in Hamburg auch von Seiten nationalsozialistischer Studenten ausgesetzt, nachdem er öffentlich gegen den radikalen Rechtsruck an der Hamburgischen Universität und bei ihren Studierenden Stellung genommen hatte.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Mendelssohn Bartholdy 1933 zwangsemeritiert und 1934 zum Rücktritt aus der Leitung des Instituts für Auswärtige Politik gezwungen, dessen Ausrichtung bald konterkariert wurde. Das letzte Hamburger Jahr 1933/34 war Mendelssohn Bartholdys einsamstes. Gegenüber Friedrich Thimme sprach er im Dezember 1933 von einer Zeit, „in der die meisten ‚Freunde‘ (und vor allem natürlich die Kollegen) sich aufs sorgfältigste zurückhielten“.
Im September 1934 emigrierte Mendelssohn mit seiner Familie nach Oxford, wo der knapp 60-Jährige am Balliol College zwar keine Stelle erhielt, aber zumindest als Fellow willkommen war. Nur zwei Jahre später, am 26. November 1936, starb Albrecht Mendelssohn Bartholdy im englischen Exil an Magenkrebs.
Seit 2011 ist einer der sieben Hörsäle im Hauptgebäude der Universität Hamburg nach dem vertriebenen Gelehrten benannt, seit 2012 gibt es in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät eine Albrecht Mendelssohn Bartholdy Graduate School of Law, und seit dem selben Jahr trägt ein Studierendenwohnheim in Hamburgs Innenstadt den Namen Albrecht Mendelssohn Bartholdy Haus. Eine systematische Erschließung seines umfangreichen Werks und eine umfassende Biographie stehen bis heute aus.
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Gantzel-Kress, Gisela: Albrecht Mendelssohn Bartholdy. Ein Bürgerhumanist und Versöhnungsdiplomat im Aufbruch der Demokratie in Deutschland. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 71 (1985), S. 127-143.
A.I.2 / 198
Nicolaysen, Rainer: Für Recht und Gerechtigkeit. Über das couragierte Leben der Juristin Magdalene Schoch (1897-1987). In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 92
(2006), S. 113-143.
A.I.2 / 198
Nicolaysen, Rainer: Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874-1936). In: 100 Jahre Hauptgebäude der Universität Hamburg. Reden der Festveranstaltung am 13. Mai 2011 und anlässlich der Benennung der Hörsäle H und K im Hauptgebäude der Universität nach dem Sozialökonomen Eduard Heimann (1889-1967) und dem Juristen Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874-1936). Red. Rainer Nicolaysen (Hamburger Universitätsreden N. F., Bd. 18). Hamburg 2012, S. 65-72.
A.XI.03.b / 015
Oeter, Stefan: Internationales Recht in Hamburg. Vom Institut für Auswärtige Politik zum Institut für internationale Angelegenheiten. In: 100 Jahre Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg. Hg. von Tilman Repgen, Florian Jeßberger und Markus Kotzur unter Mitarbeit von Sarah A. Bachmann. Tübingen 2019, S. 555-575.
A.XI.03.b / 225
Bachmann, Sarah A.: Schlaglichter auf 100 Jahre Rechtswissenschaft an der Hamburger Universität. In: 100 Jahre Universität Hamburg. Studien zur Hamburger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in vier Bänden. Hg. von Rainer Nicolaysen, Eckart Krause und Gunnar B. Zimmermann, Bd. 3: Erziehungswissenschaft, Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaft. Göttingen 2022, S. 361-643.
A.XI.03.b / 232.3
Nicolaysen, Rainer: Mendelssohn Bartholdy, Albrecht Felix Wolfgang Carl Adolf. In: Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Hg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Bd. 5. Göttingen 2010, S. 252-254.
A.XIV.2 / 0012.5
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