Griff in die Geschichte (59)
„Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf“
Ernst Cassirer in Hamburg – ein kurzer Rückblick anlässlich seines 150. Geburtstags
von Rainer Nicolaysen
Ernst Cassirer (1874-1945) zählt zu den wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts und zu den bedeutendsten Gelehrten in der Geschichte der Hamburger Universität, an die er kurz nach ihrer Gründung 1919 berufen wurde und der er bis zu seiner Vertreibung als Jude 1933 angehörte.
Am 28. Juli 1874 in Breslau geboren, hatte Cassirer ab 1892 zunächst Rechtswissenschaft in Berlin, dann unter anderem Philosophie und Literaturwissenschaft in Leipzig, Heidelberg und Berlin studiert, bevor er 1896 nach Marburg wechselte, wo er drei Jahre später mit einer Dissertation über „Descartesʼ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis“ bei den Neukantianern Hermann Cohen und Paul Natorp promoviert wurde. Im Jahr 1906 habilitierte er sich mit dem ersten Band seines später vierbändigen Werkes „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit“ an der Berliner Universität und wirkte dort die folgenden dreizehn Jahre als Privatdozent. Obwohl als „Erkenntnis-Cassirer“ bekannt und anerkannt, blieb ihm als Juden eine Professur im kaiserlichen Deutschland verwehrt. Mit dem Ruf auf das Ordinariat für Philosophie an der „Hamburgischen Universität“ zum Wintersemester 1919/20 begann für den 45-Jährigen die ertragreichste Phase seines überaus produktiven Gelehrtenlebens; umgekehrt gewann die neue Universität durch die Berufung des Philosophen enorm an wissenschaftlichem und öffentlichem Renommee.
Mit seinen profunden Kenntnissen sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften verfolgte Cassirer einen interdisziplinären Ansatz, der in Hamburg in seinen engen Kontakten zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, insbesondere zu den Kunsthistorikern Erwin Panofsky und Aby Warburg, wie auch in seiner Zusammenarbeit mit dem Psychologen-Ehepaar William und Clara Stern zum Ausdruck kam. Seine gute Verbindung zu Jakob von Uexküll, dem Leiter des Instituts für Umweltforschung, gehört ebenfalls in diesen interdisziplinären Kontext. Auf Albert Einsteins Gastvortrag an der Hamburger Universität 1920 reagierte Cassirer im folgenden Jahr mit der Veröffentlichung erkenntnistheoretischer Betrachtungen zur Einsteinʼschen Relativitätstheorie. Seine Hinwendung zu kulturphilosophischen Fragestellungen mündete in sein dreibändiges Hauptwerk „Die Philosophie der symbolischen Formen“ (1923-1929), das in der Weimarer Zeit von weiteren grundlegenden Studien, etwa seinem philosophiegeschichtlichen Werk „Die Philosophie der Aufklärung“ (1932), flankiert wurde. Den wirkungsmächtigsten Teil seines Lebenswerks schuf Cassirer in Hamburg. Als er 1928 einen Ruf an die Universität Frankfurt am Main erhielt, entschloss er sich, in der Hansestadt zu bleiben. Aby Warburgs Artikel „Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf“, erschienen im liberalen „Hamburger Fremdenblatt“, bezeugte damals Cassirers Bedeutung weit über die Universität hinaus.
In der Hamburgischen Universität selbst gehörte der Philosoph zur demokratischen Minderheit unter den mehrheitlich nationalkonservativen und republikfeindlichen Professoren. In dieser Konstellation war es nicht selbstverständlich, dass Cassirer als persönliche Anerkennung und als Dank für sein Bleiben in Hamburg für das Amtsjahr 1929/30 zum Rektor der Universität gewählt wurde – als einer der ersten jüdischen Universitätsrektoren in Deutschland überhaupt. Seine Wahl signalisierte allerdings nicht breiteste Zustimmung unter den Ordinarien, denn etwa die Hälfte blieb der Abstimmung fern und ließ diesen Rektorwechsel eher zu als ihn tatsächlich zu wünschen. In seiner Amtszeit setzte Cassirer dann Zeichen für ein demokratisches Miteinander, am deutlichsten durch die gegen massive inneruniversitäre Widerstände durchgesetzte Feier zur Würdigung der Weimarer Reichsverfassung, die einzige ihrer Art an der Hamburger Universität, auf der Cassirer selbst im August 1930 die Festrede hielt. Schon zwei Jahre zuvor hatte er bei der Verfassungsfeier des Hamburger Senats „Die Idee der republikanischen Verfassung“ gegen ihre antidemokratischen, völkischen und antisemitischen Gegner zu verteidigen versucht. Auf Cassirer folgten bis zum Ende der Weimarer Zeit nur noch republikfeindliche Universitätsrektoren in Hamburg.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war der Philosoph der erste Emigrant der Hamburgischen Universität. Noch vor Inkrafttreten des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, mit dem die Vertreibung von „Nicht-Ariern“ und politisch Missliebigen begann, verließ er mit seiner Ehefrau Toni und den drei Kindern Deutschland. So früh und weitblickend wie kaum ein anderer sah er dort keine Existenzmöglichkeit für Juden mehr. Die Umwidmung seines Hamburger Lehrstuhls für Philosophie in einen für Rassenbiologie sollte ihm bald schon recht geben. Stationen des Exils waren Oxford, Göteborg und ab 1941 die USA, wo Cassirer, inzwischen schwedischer Staatsbürger, Gastprofessuren in Yale und an der Columbia University wahrnahm. Kurz vor dem Ende des „Dritten Reichs“, am 13. April 1945, starb Ernst Cassirer 70-jährig in New York City.
In der nach-nationalsozialistischen Zeit blieb Cassirer in Deutschland lange Zeit „ausgebürgert“; sein Werk wurde nach 1945, auch an der Universität Hamburg, kaum beachtet; die Umstände seiner Vertreibung und deren Konsequenzen für seinen weiteren Lebensweg waren kein Thema. Erst in den 1980er Jahren begann die Universität Hamburg sich mit dem breit angelegten Forschungsprojekt zum „Hochschulalltag im ‚Dritten Reich‘“ ihrer NS-Vergangenheit zu stellen und auch Cassirer als einen ihrer hervorragendsten Wissenschaftler wieder in den Fokus zu rücken. 1999 wurde der größte Hörsaal im Hauptgebäude der Universität in Ernst-Cassirer-Hörsaal umbenannt. Seit 2021 erinnert eine Gedenktafel vor Cassirers Wohnhaus in der Blumenstraße 26 an den Philosophen.
Anders als im anglo-amerikanischen Raum hat auch Cassirers Philosophie in der deutschen Forschung erst seit den 1980er Jahren wieder intensivere Beachtung gefunden. 1993 wurde in Heidelberg die Internationale Ernst-Cassirer-Gesellschaft gegründet, in den Jahren 1998 bis 2009 erschienen die von der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle der Universität Hamburg unter Leitung von Birgit Recki edierten Gesammelten Werke in 26 Bänden als „Hamburger Ausgabe“, begleitet von einer Ausgabe der „Nachgelassenen Manuskripte und Texte“, die ihrerseits 19 Bände umfasst und zwischen 1995 und 2022 veröffentlicht wurde. Damit konnte das umfangreiche, in viele Wissenschaftsdisziplinen ausstrahlende Werk eines der letzten Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich erschlossen und die Grundlage für eine breite internationale wie interdisziplinäre Rezeption geschaffen werden.
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Brietzke, Dirk: Cassirer, Ernst Alfred: In: Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Hg. von Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke, Bd. 1. Hamburg 2001, S. 68-70.
A.XIV.2 / 0012.1
Cassirer, Toni: Mein Leben mit Ernst Cassirer. Hildesheim 1981.
A.XIV.2 / 0044a
Frede, Dorothea (Hg): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie. Darmstadt
1997.
A.XIV.2 / 0044
Hamann, Frauke (Red.): Zum Gedenken an Ernst Cassirer : (1874 - 1945). Ansprachen auf der akademischen Gedenkfeier am 11. Mai 1999. Hamburger Universitätsreden ; N.F., 1. Hamburg 1999.
A.XI.03.b / 192.01
Krois, John Michael: Ernst Cassirer 1874-1945. In: John Michael Krois/Gerhard Lohse/Rainer Nicolaysen: Die Wissenschaftler Ernst Cassirer, Bruno Snell, Siegfried Landshut (Hamburgische Lebensbilder, Bd. 8). Hamburg 1994, S. 9-40.
A.I.2 / 187.08
Meyer, Thomas: Ernst Cassirer (Hamburger Köpfe). Hamburg 2006.
A.XIV.2 / 0001.19
Nicolaysen, Rainer: Plädoyer eines Demokraten. Ernst Cassirer und die Hamburgische Universität 1919 bis 1933. In: Philosophie und Gestalt der Europäischen Universität. Akten der Internationalen Fachtagung Budapest, vom 6. bis 9. November 2003. Hg. von
István M. Fehér und Peter L. Oesterreich (Schellingiana, Bd. 18). Stuttgart-Bad
Cannstatt 2008, S. 285-328.
A.XI.03.b / 227
Recki, Birgit: Universitätsphilosophie in Hamburg: Ernst Cassirer (Breslau 1874 – New York 1945). In: 100 Jahre Universität Hamburg. Studien zur Hamburger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte in vier Bänden. Hg. von Rainer Nicolaysen, Eckart Krause und Gunnar B. Zimmermann, Bd. 2: Geisteswissenschaften, Theologie, Psychologie. Göttingen 2021, S. 23-44.
A.XI.03.b / 223.2
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