Griff in die Geschichte (51)
Klassisches Ballett neu konzipiert –
Fünfzig Jahre außergewöhnliche Choreographiekunst in Hamburg
von JR
Ein Name ist aus der Welt des Balletts nicht wegzudenken: John Neumeier. Solotänzer, Regisseur, Dramaturg, Librettist, Ballettdirektor und Choreograph von Weltruf.
1939 geboren im US Staat Wisconsin interessierte er sich schon früh für Ballett und insbesondere für den Choreographen und Tänzer Vaslav Nijinsky der Compagnie Balletts Russes, der für seine athletische Sprungtechnik berühmt war. Nach ersten Ballettstunden in seiner Heimatstadt Milwaukee erweiterte er seine tänzerische Entwicklung mit Ausbildungsjahren an Ballettschulen in Kopenhagen und London. Anschließend studierte er an der jesuitischen Marquette University Theaterwissenschaften und Englische Literatur mit einem BA-Abschluss.
1963 bis 1969 war Neumeier im Stuttgarter Ballett unter dem berühmten Direktor und Choreograph John Cranko engagiert, hier wurde er schnell als Solist und Choreograph bekannt. Die nächsten vier Jahre verbrachte er als Ballettdirektor an den Städtischen Bühnen Frankfurt am Main, wo er für manche Inszenierung seine ganz eigene Interpretation vorstellte. Schon Sergei Djagilev, Impresario des Balletts Russes, hatte vor ihm szenisch und choreographische Neuformen eingeführt und damit die Ballettkunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt.
Von August Everding, seit 1973 bis 1977 Professor an den Musikhochschulen der Stadt Hamburg und Intendant der Staatsoper, als Ballettleiter und Chefchoreograph 1973 nach Hamburg berufen, brilliert John Neumeier seit einem halben Jahrhundert auf der Bühne der Stadt.
Unter der Leitung Neumeiers, seit 1996 Ballettintendant, erlangte das Staatsoper-Ballett Hamburg internationale Anerkennung. Ob Premieren an der Staatsoper stattfanden oder in Opernhäusern in anderen Ländern, seine Vorstellungen erregten allgemeine Beachtung.
Die Liste seiner Inszenierungen und weltweiten Gastspiele während fünf Jahrzehnten ist schier endlos. Seine Versionen des Märchenballetts Der Nussknacker nach der Musik von Tschaikowsky, Illusionen wie Schwanensee nach Tschaikowsky, Die Kameliendame nach Dumas, Peer Gynt nach Ibsen oder Giselle nach einem Ursprungstext von Heine erregten große Aufmerksamkeit. Für die Inszenierung des Balletts Othello nach Shakespeares Drama konzipierte er nicht nur die Choreographie sondern entwarf auch Bühnenbild und Kostüme. Diese Inszenierung fand Begeisterung neben Hamburg auch in Paris, Brüssel, Tokio, Milwaukee und anderen Städten. Als Gastchoreograph arbeitete er auch für Ballette in Paris, Wien, München, Berlin, Stockholm, Helsinki, Brüssel und vielen mehr.
John Neumeiers Choreographien nahmen nicht nur die traditionellen Stücke zum Thema. Er widmete sich auch kirchlicher Musik für seine Inszenierungen wie Händels Oratorium Messiah oder Bachs Matthäus-Passion. Die Aufführung von Gustav Mahlers Dritte Sinfonie von 1975 war so eindrucksvoll, dass sie mehr als 180 Aufführungen in 47 Städten erlebte. Doch er bearbeitete auch Musicals wie Leonard Bernsteins West Side Story oder das Schauspiel Endstation Sehnsucht von Tennessee Williams. Auch völlig neue Bearbeitungen und Themen nahm Neumeier in sein Repertoire auf, wie Ghost Light in 2020 zum Thema Corona, vom Fachmagazin Tanz zur Produktion des Jahres gekürt.
Die von ihm 1973 eröffnete Ballett-Werkstatt bietet dem Publikum Einblicke in die kreative Arbeit der Hamburg Companie. 1978 gründete er eine Ballettschule, in der internationale Jugendliche für den Bühnentanz ausgebildet werden, mit dem 2011 gegründeten Bundes-Jugendballett sollen Interessenten im In- und Ausland für die Ballettkunst interessiert werden. Die 2006 ins Leben gerufene Stiftung John Neumeier soll sein Lebenswerk zu Ballett und Tanz für die Nachwelt sichern.
John Neumeiers Vielseitigkeit und Kreativität und seine herausfordernden Adaptionen machten ihn weltberühmt. Sein Anliegen war, die klassische Ballett-Tradition mit zeitgenössischen Formen zu verbinden und den historischen Hintergrund der verarbeiteten Stücke in einen Bezug zur Gegenwart zu bringen. Die aus diesem Konzept heraus entstandenen Neudeutungen des klassischen Stoffs und Tanzes erlebten in ihrer choreographischen Gestaltung manchmal Irritation doch meistens tosenden Applaus. Seine dramaturgischen Inszenierungen sind in die Geschichte des Balletts eingegangen.
Es ist nicht verwunderlich, dass John Neumeier mit unzähligen Ehrungen von zahlreichen Staaten ausgezeichnet wurde, das Bundesverdienstkreuz Deutschlands sei nur als eine genannt.
Auch im letzten Jahr von John Neumeiers Amtszeit sind zahlreiche Vorführungen im In-und Ausland geplant. Mit Aufführungen seiner bedeutendsten Werke während der 48. Hamburger Ballett-Tage im Juni-Juli 2023 wird sein 50jähriges Wirken gefeiert. Mit einer Ballettgala, bezeichnenderweise betitelt Epilog, wird 2024 seine allerletzte Spielzeit in Hamburg abgerundet
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Brauneck Manfred (Hrsg.), Theaterstadt Hamburg. Schauspiel, Oper, Tanz. Geschichte und Gegenwart; Hrsg. vom Zentrum für Theaterforschung an der Universität Hamburg. Reinbek 1989
A.XI.05/120
Scharberth Irmgard, Musiktheater mit Rolf Liebermann. Der Komponist als Intendant. 14 Jahre Hamburgische Staatsoper; Ein Bericht. Hamburg 1975
A.XI.06/004
Hamburgische Staatsoper et al (Hrsg.), Dreihundert Jahre Oper in Hamburg. 1678 bis 1978. Hamburg 1977
A.XI.06/077
Koegler Horst, John Neumeier. Bilder eines Lebens; Hrsg. Von der Stiftung John Neumeier. Hamburg 2010
A.XI.06/141
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