Griff in die Geschichte (42)
150 Jahre Streik der Hamburger Schiffszimmerer
von Charlotte Wilken
Die Allgemeine Deutsche Schiffszimmerer-Genossenschaft ist wohl jedem Hamburger und jeder Hamburgerin bekannt, zumindest, wer in Hamburg eine Wohnung bei einer Genossenschaft sucht oder gesucht hat. Sie ist hervorgegangen aus der Vereinigung der Schiffszimmerer, die vor 150 Jahren erfolgreich in einen Streik traten. Bei der Gründung der Vereinigung der Schiffszimmerer ging es allerdings nicht um Wohnungen, sondern um die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Der Streik begann am 13. Februar 1872 und wurde erst über zwei Monate später, a. 23. April beendet. Dieses Datum soll zum Anlass genommen werden, die sozialen und politischen Veränderungen im Hamburger Hafen, insbesondere in der 2. Hälfte des 19. Jhdts. ins Gedächtnis zu rufen. Die umwälzenden Veränderungen im Schiffbau werden auch deutlich daran, dass es die Ausbildung der „Schiffszimmerer“ seit 2009 nicht mehr gibt.
Jahrhundertelang wurden Schiffe aus Holz gefertigt. Zimmerleute bauten Schuten, Frachter, Küstensegler und auch große Frachtschiffe. Die Zimmerleute fühlten sich als Elite auf den Werften, in der Literatur wird auf ihren Berufsstolz hingewiesen. Die Zunft der Schiffszimmerer wurde in Hamburg im Zuge der Gewerbefreiheit allerdings im Jahr 1837 aufgehoben.
Im Laufe des 19. Jhdts. veränderte sich der Schiffbau erheblich, insbesondere verlor der Holzschiffbau an Bedeutung, Schiffe wurde aus Eisen hergestellt. Der Wechsel vom Holz- auf den Eisenschiffbau beschleunigte sich in Hamburg Ende des 19. Jhdts. rasant. Die Werften wurden größer, der Anteil ungelernten Kräfte und der Tagelöhner nahm zu. Zwar wurden immer noch viele Schiffe aus Holz gebaut, aber der Eisenschiffbau nahm an Bedeutung zu, was insbesondere die Schiffszimmerer betraf. So waren z. B. bei Blohm und Voss Anfang der 80er Jahre des 19. Jhdts. von über 900 Beschäftigten nur noch 132 Schiffszimmerer. Lange waren sie an führender Stelle gewesen, was auch zu einem ausgeprägten Berufsstolz führte. Es fiel ihnen schwer, diese zentrale Bedeutung im Schiffbau zu verlieren. Versuche, für alle am Schiffbau Beteiligten zu sprechen, scheiterten: „Das Beharren auf ihrem einstigen Status, gepaart mit dem Anspruch, die Prinzipien und Strategie einer alle Werftarbeiter umfassenden Organisation zu bestimmen, brachte Unruhe in die Bestrebungen der vielen anderen auf den Werften beschäftigten Berufsgruppen“ (Johanna Meyer-Lenz: S. 215). Ende der 70er Jahre betrug der Anteil der Schiffszimmerer an der Belegschaft der Werften nur ca. 10-20 % (ebda. S. 217).
Bereits am 8. Juli 1849 – also 12 Jahre nach der Aufhebung der Zunftordnung hatten die in Hamburg ansässigen Schiffszimmerer einen „Gewerkverein“, den Allgemeinen Deutschen Schiffszimmerer-Verein (AdSZV) gegründet, der die Aufgabe hatte, sich für höhere Löhne einzusetzen und auch die Zahl der Lehrlinge zu begrenzen, um damit ein Überangebot an Arbeitskräften zu vermeiden. Auch sollte nicht mit Schiffszimmerern, die nicht aus Hamburg waren, zusammengearbeitet werden, solange Hamburger arbeitslos waren. Solche Regelungen ließen sich in großen Werften schwer umsetzen, die Werftbesitzer ignorierten diese Regelungen, es wurden auch auswärtige Schiffszimmerer eingestellt. So waren die Schiffszimmerer gezwungen, ihre Aktivitäten auf die Umgebung Hamburgs auszuweiten (1871) und später (1873) auf ganz Deutschland.
Mit der Koalitionsfreiheit (z. B. im Deutschen Bund 1869) bekamen Zusammenschlüsse von Arbeitern, d. h. Gewerkschaften, vermehrt politische Bedeutung. Tarifverträge wurden abgeschlossen, die überwiegend nur für einzelne Betriebe gültig waren, teilweise auch als Verbandstarifverträge. Gewerkschaften waren nach Berufsgruppen organisiert, da sie z. T. aus Berufsorganisationen entstanden waren. So erstaunt es nicht, dass bei diesem Streik nur eine Berufsgruppe streikte. Nach dem 1. Weltkrieg wurden dann Tarifverträge auch gesetzlich verankert und damit Flächentarifverträge in größerem Maße ermöglicht.
Der Streik der Schiffszimmerer ist ein frühes Beispiel, wie durch einen Streik die Lohn- und Arbeitsbedingungen verbessert werden konnten und, wie zu erwarten, auch die Durchsetzung der Rechte immer wieder neu erkämpft werden mussten. Im Gegensatz zum Hafenarbeiterstreik 1896/97, der letzten Endes für die Hafenarbeiter nicht erfolgreich war, erreichten die Schiffszimmerer einen Teilerfolg, sowohl was die Arbeitszeiten als auch die Tarife anbetrifft. Vielleicht war es den Werfbesitzern ja auch nicht so wichtig, weil es nur sehr wenige betraf? An dem großen Hafenarbeiterstreik nahmen bis zu 17.000 Arbeiter teil, die Zahl der Schiffszimmerer, 15 Jahre früher, war mit einigen Hundert dagegen gering.
Wie wurde nun aus einer berufsständigen Gewerkschaft eine Wohnungsbaugenossenschaft? Das Beispiel aus Memel macht das Vorgehen der Vereinigung deutlich: Da ein Meister sich nicht zu Lohnerhöhungen bereiterklärte, drohten die Arbeiter, auf eigene Rechnung zu arbeiten, was dann auch geschah. Sie pachteten ein Grundstück, ließen ein Vorkaufsrecht eintragen und konnten ein Grundstück in den 70er Jahren des 19. Jhdts. erwerben, was nicht ganz ohne Risiko war. Zur Finanzierung wurde eine Genossenschaft gegründet. 1891 wurde dann die Werft an die Memeler Schiffszimmerer-Genossenschaft vermietet. So entstand die Schiffszimmerer-Genossenschaft. Dass die Schiffszimmerer sich auch für eine Verbesserung der Wohnsituation einsetzten, erstaunt nicht. Bereits 1890 hatte sich die Allgemeine Deutsche Schiffzimmerer-Verein der Aufgabe verschrieben, Wohnungen zu erwerben bzw. zu bauen. Insbesondere in Hamburg hatte sich durch den Abriss von fast 1000 Wohnungen im Jahr 1872 im Hafen die Lebenssituation zusätzlich verschärft. Die Genossenschaft wurde zwar in Memel gegründet, der Sitz blieb aber in Hamburg. So wurden, u.a. aus den Geldern des Verkaufs in Memel und Kiel, Grundstücke in Hamburg angekauft (Thalstraße und Erichstraße) und es entstand aus der beruflichen Interessenvertretung eine Wohnungsbaugenossenschaft, so wie wir sie heute kennen.
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Die Schiffszimmer-Genossenschaft. Chronik zum 125jährigen Bestehen. Hamburg 1995
A.II.4 f / 147
Michael Grüttner: Arbeitswelt an der Wasserkante. Sozialgeschichte der Hamburger Hafenarbeiter. Göttingen 1984
A.VII.1 / 005
Johannes Schupp: Die sozialen Verhältnisse im Hamburger Hafen. Inauguraldissertation. Kiel 1908
A.VII.1 / 010
Angelika Voss-Louis. Hamburgs Arbeiterbewegung im Wandel der Gesellschaft. Eine Chronik. Band 1: 1842-1890. Hamburg 1987
A.VII.1. / 019.1
Johanna Meyer-Lenz: Schiffszimmerer – Eisenschiffbauer – Werfarbeiter. Zu Fragen der Organisationen und Streiks des Hamburger Werftarbeiterproletariats 1880 – 1890. In: Arbeiter in Hamburg. Hrsg. Von Arno Herzig u. a., Hamburg 1983
A.VII.1 / 169
Helge Burkhardt: Heinrich Grosz und die Schiffszimmerer. In: Genossenschaftsgründer und Genossenschaftsgründerinnen und ihre Ideen. Norderstedt 2011, S. 110-116
A VII 1 / 171.02
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