Griff in die Geschichte (39)
Vor 150 Jahren: Ottensen war auch einmal Stadt
von Lilja Schopka-Brasch
Ottensen und Neumühlen wurden 1871 zur Stadt Ottensen erhoben. Bis dahin hatte der Ortsvorstand, bestehend aus einem Vogt und zwei Dorfbevollmächtigten, die Kommunalverwaltung innegehabt unter Aufsicht der Stadt Altona. Nach dem Ende der dänischen Herrschaft 1866 hatte Altona auch die Justiz- und Polizeihoheit über Ottensen erhalten. 1867 waren Ottensen und Neumühlen mit Altona zu einem preußischen Stadtkreis zusammengefasst worden und hatten sich kurz darauf zusammengeschlossen.
Ottensen, das wohl erstmalig 1310 erwähnt wurde und jahrhundertelang bäuerlich geprägt war, entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Industrieort mit stetig wachsender Bevölkerung. Ottensen hatte davon profitiert, dass Altona 1853 – nach seiner Teilnahme an den Schleswig-Holsteinischen Befreiungskämpfen gegen Dänemark 1848-1852 und deren Scheitern – zum Zollausland erklärt worden war. Altona verlor damit seine Zollfreiheit für alle nach Schleswig-Holstein und Dänemark ausgeführten Gewerbeerzeugnisse. So wurde Ottensen als Industrie- und Gewerbestandort interessant. Glashütten, Tabakfabriken und andere Gewerbe siedelten sich an und bereits 1856 wurden 44 Fabriken in Ottensen gezählt. Die meisten entstanden auf ehemaligen Acker- und Weideflächen entlang der Bahrenfelder Straße, wichtige Transportverbindung mit Anschluss an Elbe und Eisenbahn.
Einen weiteren Industrieboom erlebte Ottensen, als 1867 Schleswig-Holstein, nunmehr preußisch, in den Deutschen Zollverein und den Norddeutschen Bund aufgenommen wurde. Denn so erhielt auch Ottensens Industrie freien Zugang zu dem nun unter preußischer Vorherrschaft stehenden Wirtschaftsgebiet, und konnte seinen Standortvorteil gegenüber Altona ausbauen, da die Zollgrenze weiterhin bestehen blieb. So wuchs Ottensen zum größten Industriedorf Preußens mit einer Bevölkerungszahl von 7000.
In dieser Wachstumsphase gab die Regierung in Schleswig mit dem „Gesetz zur Verfassung und Verwaltung der Städte und Flecken der Provinz Schleswig-Holstein“ vom 4. April 1869 grünes Licht für die Einführung einer Städteordnung für Ottensen-Neumühlen. Diese sah einen Magistrat, bestehend aus Bürgermeister, einem Beigeordnetem und drei Stadträten sowie ein 12-köpfiges Stadtverordneten-Kollegium vor, die in mehreren Wahlgängen gewählt werden sollten. An dem Wahlprozedere hatten nur etwa 10 Prozent der Ottenser Bevölkerung Anteil. Das preußische Kommunalwahlrecht war an das Bürgerrecht gebunden, das nur Männer ab einer bestimmten Steuerkategorie erhielten. Dazu gehörten vor allem Grundbesitzer, Handwerker und Fabrikanten. Die ärmeren und armen Bevölkerungsschichten sowie alle Frauen waren vom Wahlrecht ausgeschlossen.Der 1867 gegründete Bürgerverein und der Communalverein stellten die potenziellen Kandidaten, von denen einige dem Ortsvorstand angehörten. Es dauerte jedoch zwei Jahre, bis alle 12 Stadtverordnete gewählt waren. Denn die beiden Vereine, so der Historiker Holmer Stahncke, stritten heftig um die Posten und schreckten dabei auch nicht vor Intrigen und Lügen zurück. Im Sommer 1873 war es endlich soweit, das alte Ortskollegium konnte vom neuen Stadtkollegium abgelöst werden. Nun musste noch ein Bürgermeister gefunden werden, was wieder heftige Debatten auslöste. Doch nach einem Jahr weiterer Querelen wurde schließlich der Jurist Matthias Bleicken zum Bürgermeister gewählt. Nun ging auch die Polizeiverwaltung an die Stadt Ottensen über. Das Verwaltungszentrum war im Südosten von Ottensen, nahe der Grenze zu Altona und in Nachbarschaft zu Zollamt und Christians Kirche. Die neue Stadtverwaltung übernahm die Räume des alten Ortsvorstands. Ein Rathaus sollte später gebaut werden.
Es gab viel zu tun für eine neue Stadtverwaltung. Ottensens Bevölkerung wuchs stetig, insbesondere der Anteil der Besitzlosen. Sie lebten unter katastrophalen Bedingungen in engen feuchten Wohnungen, die kaum zu lüften waren. Viele erkrankten an Lungentuberkulose, insbesondere Zigarrenmacher und ihre Familien, die in Heimarbeit die Zigarren fertigten und dem feinen Tabakstaub ausgesetzt waren. Verschärft wurde das Wohnproblem durch den Zuzug weiterer Industriearbeiter, die in den großen Betrieben wie der Schiffsschraubenfabrik Zeise oder der Maschinenfabrik Menck & Hambrock Arbeit fanden. Doch Magistrat und Stadtverordnetenkollegium kümmerten sich nicht um die schlechten Wohnverhältnisse, legten kein kommunales Wohnprogramm auf. Dies übernahm erst später der Altonaer Magistrat.
Es war jedoch nicht die Untätigkeit der Stadtverordneten, die schließlich ihrer Herrschaft ein Ende setze. Es war wieder die Zollgrenze, die diesmal – mit dem Zollanschluss Altonas 1888 – aufgehoben wurde. Damit verlor Ottensen mit einem Schlag seinen Standortvorteil und seine städtischen Entwicklungsmöglichkeiten. Schon 1889 wurde Ottensen nach Altona eingemeindet. Damit endete die Stadtherrlichkeit nach nur 18 Jahren.
Über Ottensens wechselvolle Geschichte ließe sich noch viel erzählen, hier sei verwiesen auf...
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Ottensen-Chronik : "... damit nicht alles in Vergessenheit gerät." Dokumentation eines Hamburger Stadtteils. - 2. Aufl. / Hrsg. Förderkreis "Ottensen-Chronik" e.V. Hamburg 1995.
A.II.4.b / 073
Fritz Wartenberg: Erinnerungen eines Mottenburgers 1905 - 1925. Hamburg 1983.
A.II.4.b / 201
700 Jahre Ottensen : vom Bauerndorf zum Szeneviertel / Altona Magazin Sonderausgabe. Hamburg 2010.
A.II.4.b / 202
Stadtteilarchiv Ottensen: "Ohne mich hätten sie das gar nicht machen können". Hamburg 1985.
A.II.4.b / 209
Stadteilarchiv Ottensen: Mitten durch Ottensen. Die Bahrenfelder Straße; Geschichte und Geschichten einer Straße. Hamburg 2015.
A.II.4.b / 210
Aufgeweckt. Frauenalltag in vier Jahrhunderten; ein Lesebuch / Frauen-Geschichtsgruppe des Stadtteilarchivs Ottensen e.V. Hamburg 1988.
A.II.4.b / 210
Hans Kai Möller: Streiflichter aus der Geschichte der Zigarrenarbeiterbewegung in Hamburg, Altona und Ottensen (1848 - 1904). Hamburg 1982.
A.XV / 116a
Ottensen. Zur Geschichte eines Stadtteils. Ausstellungsgruppe Ottensen. Ausstellungskatalog Altonaer Museum. Hamburg 1982.
A.XV / 200
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