Griff in die Geschichte (37)
Der St. Pauli-Elbtunnel – „Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst“ wurde 110 Jahre alt
von Lilja Schopka-Brasch
Am 7. September 1911 wurde nach vierjähriger Bauzeit der Elbtunnel für den allgemeinen Verkehr freigegeben, zunächst nur für Fußgänger, am 30. November auch für den Fahrzeugverkehr. Die herbeiströmenden Schaulustigen erwartete ein imposanter Rundbau mit kupfernem Kuppeldach, die Fassade mit Tuffstein verkleidet wie die benachbarten Landungsbrücken, und mit Rundbögen und Säulen aufgelockert. Innen konnten die verschiedenfarbigen Fliesen, Reliefs und Terrakotta-Figuren an den Wänden bewundert werden, unter den hohen Fenstern etwa Abbildungen des Architekten oder der Konstrukteure und Ingenieure. Entworfen hatte den Bau Otto Wöhlecke vom Architekturbüro Raabe & Wöhlecke in Altona, das auch für den Entwurf der Landungsbrücken verantwortlich zeichnete. Mit der künstlerischen Ausgestaltung war der Bildhauer Hermann Perl beauftragt worden, mit der technischen Planung und Durchführung des Tunnels die Firma Philipp Holzmann.
Vier große Lasten- und zwei kleinere Personenaufzüge sorgten für die Beförderung in die Unterwelt, zu der auch eine Eisentreppe mit 132 Stufen führte. Um 9 Uhr 1 war es soweit: Einer der großen Fahrkörbe wurde freigegeben und die ersten hundert Personen drängten hinein. Unten öffneten sich vor ihnen die weiß gefliesten Tunnelröhren, die in gleißendes Licht getaucht waren. Über den beiden Röhren war auf einem Wandfries die Baugeschichte des Elbtunnels dargestellt. An den Röhrenwänden zogen die auf Reliefs dargestellten Wasserbewohner wie Fische, Schalentiere und Ratten die Blicke auf sich. Nach etwa siebenminütigem Fußmarsch und 426 zurückgelegten Metern war der Tunnel durchquert und die Besucherinnen und Besucher gelangten mit dem Aufzug wieder nach oben. Auch hier der gleiche Rundbau mit Kuppeldach und hohen Fenstern zur Wasserseite, nur stellten die Terrakotta-Figuren Arbeitsleute wie Eisenarbeiter, Maurer, Zimmermann und Elektriker dar. Die Außenfassade war durch roten Backstein an die Umgebung von Hafen und Industriegebiet angepasst, wie auch die umstehenden Gebäude für Zoll, Kasse und Waage. Diese Einfuhrhalle wurde im Zweiten Weltkrieg so stark beschädigt, dass sie nur vereinfacht und mit einem Flachdach wieder aufgebaut wurde.
Das Interesse an einer Tunnelbesichtigung war weit über Hamburgs Grenzen hinaus groß. So hatte es schon während der Bauzeit Besichtigungen mit in- und ausländischen Gästen gegeben und an den Tagen vor der offiziellen Inbetriebnahme waren organisierte Gruppen, etwa Vereine, durch den Tunnel geführt worden. Am Eröffnungstag sollen 60.000 Menschen den Tunnel durchwandert haben. Einen Festakt gab es an diesem Tag nicht, gefeiert worden war bereits bei dem Durchbruch der Oströhre, der Fertigstellung der Weströhre und als der Kaiser extra aus Berlin anreiste, um das Meisterwerk deutscher Ingenieurbaukunst zu besichtigen.
Der Tunnel war der erste große Unterwassertunnel auf europäischem Festland. Bei seinem Bau kam modernste Technik zum Einsatz, wie das heute noch angewendete Schildvortrieb-Verfahren. Ein Bohrschild mit hydraulischem Antrieb wurde dabei durch den Untergrund getrieben, während die Arbeiter Sand und Erde zur Seite schippten. Anschließend stützten sie das neue Tunnelstück mit zu Ringen zusammengesetzten Stahlelementen, so genannten Tübbings ab.
Der Schachtbau in Steinwerder sowie der Tunnelvortrieb mussten aufgrund der Bodenverhältnisse unter Druckluft gegraben werden, um das Eindringen von Wasser in den Tunnel zu verhindern. Deswegen wurde die Hauptbaustelle mit der technisch aufwendigen Druckluftanlage auf der Südseite der Elbe eingerichtet und der Röhrenvortrieb von dort vorgenommen. Elf Monate nach dem ersten Spatenstich begannen im Juni 1908 die Schachtarbeiten unter Druckluft.
Zur Anpassung an den Umgebungsdruck mussten die Arbeiter und Ingenieure beim Ein- und Aufstieg eine Zeit in einer Druckschleuse verbringen, um das Risiko der so genannten „Taucherkrankheit“ zu senken. Trotzdem stieg die Zahl der Erkrankten, je tiefer der Schacht wurde, denn die Ausschleusungszeiten wurden nicht ausreichend an die Druckveränderungen angepasst. Die medizinische Aufsicht oblag dem Chefarzt des Hafenkrankenhauses, der kein Spezialist der noch jungen Druckluftmedizin war. Schließlich forderte der Leiter des Gesundheitsamtes, Bernhard Nocht, die Anstellung eines erfahrenen Experten. So wurde im Januar 1909 der Neurologe Arthur Bornstein hauptamtlich als „Preßluftarzt“ eingestellt. Er hatte sich bereits mit Druckveränderungen auf den menschlichen Organismus beschäftigt und übernahm zusammen mit seiner Ehefrau Adele, einer Ärztin, die Behandlung der Erkrankten sowie regelmäßige Tauglichkeitsuntersuchungen der unter Druckluft Arbeitenden. Das Ehepaar bezog eine Wohnung in Steinwerder und Arthur Bornstein veranlasste, dass auf dem Baustellengelände sowohl eine Baracke aufgestellt wurde, in der die Arbeiter sich nach der Arbeit einige Zeit unter ärztlicher Kontrolle ausruhen konnten als auch die Einrichtung einer Druckluft-Krankenschleuse, die eine gezielte Behandlung bei auftretenden Symptomen ermöglichte. Auch die Ausschleusungszeiten wurden besser an die jeweiligen Druckverhältnisse angepasst und die Arbeitszeiten im Tunnel entsprechend der längeren Verweildauer in der Schleuse verkürzt. Diese Arbeitsschutzmaßnahmen verbesserten die Arbeitsbedingungen der im drei-Schichtsystem arbeitenden Beschäftigten. Dennoch waren am Ende der Bauzeit fast 700 leichte bis schwere Erkrankungen und drei Todesfälle unter den insgesamt etwa 4.400 Beschäftigten zu verzeichnen.
Nach der Eröffnung nutzten den Elbtunnel in Spitzenzeiten bis zu 19 Millionen Menschen jährlich und bis in die 1970er Jahre blieb er ein wichtiger Verkehrsweg. Doch auch heute hat er nichts von seiner Faszination verloren und zieht Einheimische wie in- und ausländische Reisende an.
Seit Mitte der 1990er Jahre wird der denkmalgeschützte St. Pauli Elbtunnel saniert, deswegen ist zurzeit die Weströhre gesperrt. Fertiggestellt sind die beiden Schachtgebäude sowie die Oströhre, die seit 2019 wieder für den Fuß- und Fahrradverkehr freigegeben ist. Die gesamte Sanierung soll 2026 abgeschlossen sein.
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Der Bau des Elbtunnels. In: Bau-Rundschau o. J. (um 1911)
A.II.5/37
Sicherung des alten Elbtunnels: Hauptmaßnahme im Rahmen des Norderelbe-Ausbau. Hrsg. von der Behörde für Wirtschaft und Verkehr, Strom- und Hafenbau. Hamburg 1982
A.II.5/168
Hans Jürgen Witthöft: Ein Tunnel unter der Elbe. Geschichte und Geschichten 1911-1986. Hamburg 1986
A.II.5/184
Sven Bardua: Der alte Elbtunnel Hamburg. Historische Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland, Bd. 8, hrsg. v. d. Bundesingenieurkammer. Berlin 2011
A.II.5/210
Ders.: Unter Elbe, Alster und Stadt: Die Geschichte des Tunnelbaus in Hamburg, hrsg. von der Hamburgischen Ingenieurkammer-Bau und dem Museum der Arbeit. Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs, Bd. 26. Hamburg 2011
A.IX.1/79
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