Griff in die Geschichte (46)
350 Jahre Wilhelmsburg. Ein vielseitiger Stadtteil feiert.
von Lilja Schopka-Brasch
1672 erwarb Herzog Georg Wilhelm zu Braunschweig-Lüneburg vom Adelsgeschlecht der Groten die Elbinseln Stillhorn, Rotehaus und Georgswerder, und schloss sie mit seinen weiter westlich gelegenen Besitzungen Reiherstieg und Vorwerk Schluisgrove zur Herrschaft Wilhelmsburg zusammen. Mit der Eindeichung dieser Elbinseln war bereits im 14. Jahrhundert begonnen worden, doch erst die Verbindungsdeiche schufen ein zusammenhängendes Gebiet. Am 4. September 1672 wurde der Kaufvertrag unterzeichnet, in Kraft gesetzt wurde er drei Monate später von Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
Wilhelmsburg war jahrhundertelang ländlich geprägt, die Bevölkerung lebte von Fischfang und Viehwirtschaft, ab dem 19. Jahrhundert auch vom Obst- und Gemüseanbau. Mit ihren landwirtschaftlichen Produkten, vor allem Milch, belieferte sie die Märkte in Hamburg. Im 17. Jahrhundert entstanden mit Holzhandel und Holzflößerei die ersten Gewerbe. 1698 wurde eine Sägemühle am Reiherstieg gebaut, der bald darauf die erste Schiffswerft angegliedert wurde. Tiefgreifende Veränderungen brachte die Errichtung des Hamburger Freihafens 1888 mit der Erweiterung der Hafenflächen und der Ausweitung des Handels, insbesondere mit Rohstoffen. Mit dem Aushub neuer Hafenbecken wurden die westlichen Teile Wilhelmsburgs aufgeschüttet. Auf den neuen Flächen siedelten sich große Industriebetriebe an, wie die Hamburger Wollkämmerei, die Wolle aus Übersee verarbeitete, oder die Erdölraffinerie der Deutschen Erdölwerke. Damit wurde Wilhelmsburg ein bedeutender Industrieort. Es kamen viele auswärtige Arbeitskräfte, die vor allem in Polen, Schlesien, Sachsen und Tschechien angeworben wurden. Um Wohnraum für die schnell wachsende Bevölkerung zu schaffen, wurden große, mehrgeschossige Mietskasernen gebaut, ebenso ein Ledigenheim und ein Krankenhaus. Wilhelmsburg wurde zum Arbeiterviertel. Die Industrie brachte jedoch nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Umweltprobleme: sie verschmutze die Luft, verseuchte Böden und verunreinigte die Gewässer.
Der 1. Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise brachten für den Industriestandort tiefe Einschnitte, insbesondere für die vom Rohstoffimport abhängigen Industrien. Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot nahmen zu und die sozialen Spannungen wuchsen. Das mehrheitlich sozialdemokratische und kommunistische Arbeitermilieu leistete erbitterten Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Diese fanden jedoch genug Unterstützung in der Bevölkerung, um den Widerstand zu ersticken. Wilhelmsburg wurde ein wichtiger Standort der Kriegsproduktion und profitierte von der Kriegswirtschaft. Als nach dem Überfall auf die Sowjetunion immer mehr bis dahin als „uk“ (unabkömmlich) gestellte Arbeitskräfte zur Wehrmacht einberufen wurden, wurden in den Betrieben und im Straßenbau Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen eingesetzt. Später mussten sie ebenso wie KZ-Insassen nach Luftangriffen der Alliierten auch Trümmer beseitigen und Tote bergen. Am Ende des 2. Weltkrieges waren viele Industrieanlagen und weite Teile von Wilhelmsburg zerstört. Ausgebombte und Flüchtlinge wurden in so genannten Nissenhütten untergebracht.
Doch schon bald nach dem 2. Weltkrieg verhalfen Marshallplan und Währungsreform auch Wilhelmsburg zu wirtschaftlichem Aufschwung und wachsendem Arbeitskräftebedarf. Um diesen zu decken, wurden ab Mitte der 1950er Jahre so genannte Gastarbeiter angeworben. Die meisten sind geblieben und ihre Familien leben heute in 3. und 4. Generation in Wilhelmsburg.
Die Sturmflut von 1962 wütete in Wilhelmsburg besonders schlimm. Hier brachen die Deiche zuerst und es sind die meisten Opfer zu beklagen – über 200 Menschen kamen ums Leben. Nach dieser Katastrophe wurden Teile von Wilhelmsburg vom Hamburger Senat als unbewohnbar erachtet und lagen brach. Lange hatte die Stadt Hamburg keinen Plan, wohin Wilhelmsburg sich entwickeln sollte. Erst mit der Aufgabe des Freihafens und der Erkenntnis, dass dieser Stadtteil als Innenstadt-nahes Wohnquartier große Attraktivität besitzt, wurden Ideen zu seiner Umgestaltung entwickelt und Bebauungspläne erstellt. 2013 wurden diese in der Internationalen Gartenschau und der Internationalen Bauausstellung vorgestellt. Einiges ist bereits umgesetzt, etwa der Umbau des Hochbunkers zum Energie-Bunker, Grünflächen entstehen, nachhaltiger und energieeffizienter Wohnraum wird erstellt. Die Lebensqualität im Stadtteil steigt. Allerdings profitieren nicht alle Wilhelmsburger und Wilhelmsburgerinnen davon, so fürchtet ein Teil, die steigenden Mieten nicht mehr bezahlen zu können und wegziehen zu müssen. Davon sind besonders Familien mit Migrationshintergrund betroffen. Wilhelmsburg ist ein lebendiger Stadtteil im Umbruch, dem zu wünschen ist, auch die nächsten 350 Jahre bunt und vielfältig zu bleiben.
Das 350-jährige Jubiläum feiert Wilhelmsburg drei Monate lang mit einer Reihe von Veranstaltungen. Den Auftakt machte am 3. September die Eröffnungsfeier im Bürgerhaus Wilhelmsburg mit Informationen zur Geschichte des Stadtteils, zur Planung der A26 Ost und zu 40 Jahren Kirchdorf Süd. Zahlreiche Initiativen sowie Produzenten und Produzentinnen stellten ihre Produkte vor. Für Musik sorgte das Bandoneon-Orchester Freundschaft-Harmonie. Im November zeigt das Künstlerhaus Wilhelmsburg eine Fotoausstellung von Günter Marnau. Das Abschlussfest mit Vorstellung einer Festschrift findet am 4. Dezember in der Honigfabrik statt.
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Die Festschrift 350 Jahre Wilhelmsburg wird sicher bald in unserer Bibliothek zu entleihen sein, wie jetzt schon diese Literaturauswahl zu Wilhelmsburgs Geschichte:
Eike Winkler: Magdeburg-Bukau und Hamburg-Wilhelmsburg. Industrielle Kulturlandschaftselemente, räumliche Identität und nachhaltige Stadtentwicklung. (Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in Hamburg. Bd. 106) Hamburg 2014.
A.II.4.g/11
Hermann Keesen: Wilhelmsburg. Die Insel der Gegensätze, Hamburg 1989.
A.II.4.g/13
Klaus Dieter Brügmann/Margarete Dreibrodt/Hans-Joachim Meyer/Otto Nehring: die anderen. Widerstand und Verfolgung in Harburg und Wilhelmsburg. Zeugnisse und Berichte 1933 – 1949, Hamburg 1989, 5. Aufl.
A.II.4.g/28
Uwe Wetzner/Peter Beenk: Hamburg-Wilhelmsburg. Die Reihe Archivbilder, Erfurt 2012.
A.II.4.g/29
Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg (Hg.): Wilhelmsburg in den Jahren 1923 – 1947. zerbrochene Zeit, Hamburg 1993.
A.II.4.g/166
Ernst Reinstorf: Geschichte der Elbinsel Wilhelmsburg. Von Urbeginn bis zur Jetztzeit, Hamburg 1955, Neuauflage 2003.
A.II.4.g/170
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