Griff in die Geschichte (45)
Denkmal und Denkmalbehältnis – 100 Jahre Museum für Hamburgische Geschichte
von Dominik Kloss
Kurz bevor sich das Museum für Hamburgische Geschichte ab dem Frühjahr 2023 in eine mehrjährige Baustelle verwandeln wird – wodurch insbesondere die seit längerem angekündigte Neugestaltung der Dauerausstellung Wirklichkeit werden soll – hatte die traditionsreiche Kulturinstitution in diesem Sommer etwas zu feiern. Das für Kenner eher abkürzend als MHG geläufige Haus war am 13. August 1922 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden und konnte damit sein aktuelles Jubiläumsprogramm treffend unter das Motto „100 Jahre“ stellen. Ein Senatsempfang zu Ehren der Mitarbeiter und ein Sommerfest mit vielfältigem Programm für Besucher aller Altersgruppen rahmten die darauffolgenden Wochen ein und noch bis weit in den Herbst 2022 hinein wird u.a. mit weiteren Führungen und einer künstlerisch inspirierten Sonderausstellung auf Konzeption und Wirkmächtigkeit der Sammlung in ihrer jetzigen Form Bezug genommen.
Über das Momentum hinaus wird der Blick zurück und nach vorne in einer gewichtigen Festschrift geworfen, die demnächst auch im Bibliotheksbestand des VHG einzusehen sein wird. Zusammen mit weiteren Publikationen, die teils in Kooperation mit unserem Verein entstanden sind, ergänzt sich auf diese Weise die abwechslungsreiche Gesamtschau auf ein Ausstellungshaus, dessen Ursprünge allerdings deutlich weiter zurückreichen als in die turbulenten Jahre Hamburgs nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution.
Mindestens mit den Bestrebungen durch die „artistische Section“ – eines der frühsten Arbeitsausschüsse des VHG gleich nach seiner Gründung 1839 – zum Aufbau einer „Sammlung Hamburgischer Altertümer“ gab es frühe Versuche einer Systematisierung der aus ganz unterschiedlichen Quellen zusammengetragenen stadtgeschichtlichen Hinterlassenschaften. Aber schon Jahrzehnte zuvor hatte es private Kuriositätenkabinette gegeben, bei denen etwa markante Architekturreste und Kunstwerke der 1804-1807 abgebrochenen Domkirche präsentiert wurden. Und mit der öffentlichen Ausstellung der städtischen Waffensammlung im Marine-Arsenal an der Admiralitätsstraße gab es bereits um 1835 vergleichbare staatliche Initiativen. Zusammen mit den zahlreichen Spolien, die in Folge des Großen Brandes von 1842 und der nachfolgenden flächendeckenden Abrisse für Bahnhofsbauten, Speicherstadt, Durchbruchstraßen und Kontorhausviertel zu sichern waren (und die hamburgische Altertümersammlung ebenso bereicherten wie ihre Verwalter vor Herausforderungen stellten), können diese Relikte aus dem vorindustriellen Hamburg als essentieller Grundstock des MHG gelten. Zu hoffen steht, dass der chronologische Rundgang im ersten Obergeschoss auch nach seiner anstehenden inhaltlichen Überarbeitung möglichst vielen dieser aussagekräftigen – und oft noch sichtlich populären – Zeugnisse erneut zur Heimat wird.
Eine angemessene Präsentation insbesondere der geretteten historischen Bauteile stand bereits Pate, als mit dem Vortrag Hans Speckters am 7. Januar 1884 vor dem VHG offenbar das erste Mal die Bezeichnung „Museum für Hamburgische Geschichte“ für einen zu errichtenden Neubau aufs Tableau gehoben wurde. Hätte der daraufhin gegründete, sich aber bereits 1903 wieder auflösende Museumsverein mit seinen Bemühungen, ausreichend Gelder für dieses Vorhaben einzuwerben, Erfolg gehabt, gäbe es in Hamburg ein stadtgeschichtliches Museum, das sich stilistisch wohl deutlich stärker am Historismus orientiert hätte – und auf dem Areal des jetzigen Zentralen Omnibusbahnhof errichtet worden wäre. So aber blieb die Sammlung Hamburgischer Altertümer noch bis zur Vollendung des Neubaus am Holstenwall im Souterrain des als Johanneum geläufigen Schul- und Bibliotheksgebäudes am Domplatz ansässig, wo sie sich immerhin nach und nach ausbreiten konnte, als die benachbart untergebrachten ethnographischen und zoologischen Sammlungen sukzessive eigene Museumsgebäude erhielten. Die weiteren wichtigen Weichenstellungen zur Realisierung des heutigen MHG verteilten sich auf die Jahre 1906 bis 1908, als eine eigens eingerichtete Senatskommission unter Vorsitz Werner von Melles den Museumsneubau unter dem nunmehrigen Namen sowie die Schaffung einer Direktorenstelle vorantrieb und letztere dann mit dem Göttinger Volkskundler Otto Lauffer besetzte.
Die Konzeption des jetzigen Hauses in den Jahren 1909 bis 1912 kann man schließlich als ein Ergebnis eines regen und nicht vollkommen konfliktfreien Austausches zwischen Lauffer, den ihn (väterlich wie kritisch) beratenden musealen Schwergewichten Alfred Lichtwark als auch Justus Brinckmann, und dem – zu diesem Zeitpunkt als Neuling in Hamburg noch nicht über alle Zweifel erhabenen – Architekten Fritz Schumacher bezeichnen.
Am 29. Januar 1913 schließlich beschloss die Bürgerschaft den Bau, der nach schnellem ersten Vorankommen kriegs- und revolutionsbedingt 1917 bis 1919 pausieren musste und erst im September 1920 so weit vollendet war, dass er zumindest durch die Verwaltung genutzt werden konnte. Trotz der offiziellen Eröffnung zwei Jahre später blieben diverse Ausstellungsräumlichkeiten unter wirtschaftlich schwierigen Umständen indes im unfertigen Zustand – und spätere Einbauten so zuweilen mit einem provisorisch anmutenden Charakter behaftet.
Nichtsdestotrotz wussten die Lauffer nachfolgenden Generationen den Torso des MHG, der im Zweiten Weltkrieg obendrein starke Beschädigungen erlitt, mit seinen immerhin über 6400 Quadratmetern Fläche abwechslungsreich zu bespielen. Vor allen die über Jahrzehnte agierenden Museumsdirektoren Walter Hävernick und – ab 1976 – Jörgen Bracker hinterließen dabei mit ihren jeweiligen Schwerpunktsetzungen, fachlichen Zugängen und auch ihren Naturellen Spuren. Verkehrs- und Hafengeschichte, Archäologie, Hanse und das Jüdische Hamburg sind dabei nur einige der Wegmarken, die sich in der Dauerausstellung seither und zurzeit noch prominent niederschlagen, während in den Sonderausstellungen dieser Dekaden der ein oder andere zeitgeschichtliche Akzent auch mittels wichtiger Forschungsarbeit beleuchtet wurde. Daneben gab es Herausforderungen zu stemmen, wie etwa diejenige des Jahres 1989, den von Spolien geprägten Innenhof mit einer augenfälligen Glasüberdachung zu versehen oder aber diejenige, ein denkmalgeschütztes und gleichwohl barrierefreies Gebäude zu realisieren.
Manches davon wirkt immer noch nach (respektive ist immer noch nicht abgeschlossen) und wird dem MHG gewiss auch nach der Runderneuerung und Wiedereröffnung anzumerken sein. Als ein Museum, auch wenn es von vornherein für einen solchen Zweck geplant war, welches die Moden der historischen Vermittlung und das zeitgebundene Interesse für einige geschichtliche Themen widerspiegelt, ist und bleibt das nunmehr 100-jährige MHG ein Denkmal im besten Sinne.
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Jörgen Bracker: Von der Sammlung Hamburgischer Altertümer zum Museum für Hamburgische Geschichte, in: ZHG 74/75 (1989), S. 259-272.
A.I.2 / 198
Fritz Schumacher: Der Neubau des Museums für hamburgische Geschichte; Separatdruck aus „Museumskunde“; Band XVII (1922).
A.IX.1 / 179-49
Gisela Jaacks (Hrsg.): Kirchen, Kanonen und Kommerz. Führer durch die Abteilungen Mittelalter bis 17. Jahrhundert im Museum für Hamburgische Geschichte, Hamburg 2003.
A.XI.03.d / 008
Otto Lauffer (Hrsg.): Ehrengabe des Museums für Hamburgische Geschichte zur Feier seines hundertjährigen Bestehens. Eine Sammlung von Beiträgen zur Hamburgischen und zur allgemeinen deutschen Altertumskunde, Hamburg 1939.
A.XI.03.d / 038
Victoria Asschenfeld und Olaf Matthes (Hrsg.): Quellen zur Geschichte des Museums für Hamburgische Geschichte 1839 bis 1973
Hamburg 2014.
A.XI.03.d / 045
Wilhelmine Jungraithmayr (Hrsg.): Das historische Museum als Aufgabe. Forschungen und Berichte aus dem Museum für Hamburgische Geschichte 1946-1972, Hamburg 1972 (Mitteilungen aus dem Museum für Hamburgische Geschichte; Bd. 6).
A.XI.03.d / 073
Wilhelm Jesse: Führer durch das Museum für Hamburgische Geschichte, Hamburg 1930.
A.XI.03.d / 077
Hans Speckter: Die Nothwendigkeit eines Museums für Hamburgische Geschichte. Vortrag gehalten im Verein für Hamburgische Geschichte am 7. Januar und im Architekten- und Ingenieur-Verein am 16. Januar 1884, Hamburg 1884.
A.XI.03.d / 153
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