Griff in die Geschichte (38)
150 Jahre New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie
von Sabine Atmadja
Kautschuk war in Mittel- und Südamerika bereits seit Jahrhunderten bekannt und wurde z.B. für die Herstellung von Schöpfgefäßen oder Bootsabdichtungen verwendet.
Gummi ist das Produkt mechanischer und chemischer Bearbeitung von Kautschuk. Weich- und Hartgummi unterscheiden sich durch die Beimengung unterschiedlicher Schwefelanteile. Durch Vulkanisation erhält die Mischung dann die gewünschte Dauerelastizität. Die Entwicklung dieses Fertigungsschritts ist überwiegend dem amerikanischen Chemiker Charles Goodyear (1800-1860) zu verdanken. Das Verfahren der Vulkanisation wurde von Goodyear in Europa zunächst nicht zum Patent angemeldet.
Der Brite Thomas Hancock (1786-1865) entdeckte, dass Kneten und Walzen des Kautschuks die Verbindung mit den Beimischungen erleichterte und die Formbarkeit verbesserte. Erst Hancock meldete nach einer weiteren Änderung (Anwendung von Druck) das gesamte Verfahren 1843 zum Patent an, was dann wohl zu Patentstreitigkeiten führte.
Der Hamburger Conrad Poppenhusen war schon früh nach Amerika gegangen, wo er sich 1843 an einer Fabrik für die Verarbeitung von Fischbein beteiligte. Er erkannte die Bedeutung des dem Fischbein ähnlichen Hartgummis, das damals auch „imitation whalebone“ genannt wurde. Er erwarb die Lizenz für eine wesentliche Verfahrensverbesserung und gehörte zu den Gründern der ersten Hartgummifabrik der Welt im Staat New York.
Die Hamburger Firma Heinrich Christian Meyer jr. erwarb Anfang der 1850er Jahre die Fertigungsrechte für Hartgummi von Goodyear. In den Werken der Familie Meyer wurde Hartgummi zunächst bei der Herstellung von Spazierstöcken eingesetzt („Stockmeyer“). Der Beginn der Produktion fand auf dem Großen Grasbrook statt, wo eine Dampfmaschine aus England die Maschinen antrieb. In Harburg erwarb die Firma ein großes Grundstück und 1856 entstand die Harburger Gummi-Kamm-Compagnie („Gummi-Kamm“). Die auf dem Grasbrook vulkanisierten Hartgummiplatten wurden dann in Harburg weiterverarbeitet. 1865 wurde die erste Kammsägemaschine in Betrieb genommen.
Stockmeyers Enkel Heinrich Traun übernahm die Leitung auf dem Grasbrook und in Harburg. Aufgrund von Differenzen mit den Eigentümern verließen der kaufmännische Direktor Johann Hinrich Wilhelm Maurien, der technische Direktor und einige Angestellte die Firma.
Am 21. Oktober 1871 gründeten Conrad Poppenhusen (New York), Johann Hinrich Wilhelm Maurien (Hamburg), Friedrich König (Bonn) und Bernhard Arnold dann die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie (NYH) und bauten ein neues Werk in Barmbek. Es wurden Spezialmaschinen entwickelt und gebaut, u.a. für die Herstellung von Kämmen, Schmuck und Zigarettenspitzen. 1873 wurde mit der Auslieferung begonnen; zu dieser Zeit hatte das Werk etwa 300 Beschäftigte. Nach einigen Jahren wurde die Produktion um Schreibwaren, Pfeifenmundstücke und technische Artikel für die Industrie erweitert.
1884 wurde die „Gemeinsame Betriebskrankenkasse“ gegründet. 1898 errichtete die Witwe Mauriens die Maurienstiftung, die Wohnungen für Mitarbeiter der NYH in Barmbek baute. Eine „Invaliden-, Witwen- und Waisen-Pensionskasse“ für die Angestellten und eine „Krankenunterstützungs- und Sterbekasse“ für die Arbeiter gab es dann ab 1921. In Barmbek wurden immer wieder Um- und Anbauten vorgenommen. Die letzte größere Erweiterung war der Bau der „Neuen Fabrik“ 1907, in der heute das Museum der Arbeit untergebracht ist.
Am 1. Mai 1930 übernahm die NYH die Leitung der Traun’schen Betriebe. 2000 Mitarbeiter verloren ihre Beschäftigung; das Werk auf dem Grasbrook wurde aufgegeben. In Barmbek wurden jetzt u.a. Kämme und Spritzgussartikel wie Mundstücke für Pfeifen und Musikinstrumente produziert, in Harburg technische Artikel und Kunststoffe.
Kurz vor Beginn des 2. Weltkriegs betonte die NYH, dass sie ein „rein deutsches arisches Unternehmen“ sei. Man beteiligte sich an der Munitionsfabrikation (z.B. Drehen von Granathülsen), wurde als rüstungswichtig eingestuft und beschäftigte ausländische Zwangsarbeiter. Das Barmbeker Werk und die Häuser der Maurienstiftung wurden bereits im Juli 1943 weitgehend zerstört; Harburg dann 1944/45.
Nach Kriegsende wurden die am wenigsten zerstörten Gebäudeteile und Maschinen der NYH behelfsmäßig wiederhergerichtet; die Kesselanlage war glücklicherweise funktionsfähig geblieben. Bereits 1946 gab es wieder etwa 500 Beschäftigte; 1947 überstieg der Gewinn schon den Rest des Verlusts aus 1945. Im Herbst 1949 musste ein Teil des Barmbeker Fabrikgeländes an die Stadt Hamburg verkauft werden; beim Wiederaufbau sollte das Gebiet für Wohnzwecke ohne Industrie genutzt werden. Den Rest des Geländes durfte die NYH für maximal 10 Jahre weiternutzen; der Umzug nach Harburg war jedoch schon 1954 abgeschlossen.
Neben dem Ausbau der Weichgummiverarbeitung sollte die Aufnahme moderner Kunststoffe eine Expansion der Firma ermöglichen. Zusätzlich wurden Kombinationen von Kautschuk mit Kunststoffen weiterentwickelt. 1960 wurde in Stelle/Landkreis Harburg ein Grundstück angekauft und eine Fabrik für die Kunststoffverarbeitung gebaut. Zwischen 1975 und 1993 ging die Zahl der Beschäftigten um mehr als 50% zurück; auch die Umsatzerlöse verringerten sich. Auch die Folgejahre brachten keine Verbesserung. 2009 konnte die Firma an einen neuen, kleineren Standort nach Lüneburg umziehen.
Heutzutage ist die NYH mit ca. 130 Mitarbeitern für Kunden aus der Automobil-, Luftfahrt- und Musikindustrie und dem Maschinenbau tätig. Die Kompetenz liegt in der Entwicklung und Her-stellung von hochtechnologischen Hartgummi-, Weichgummi- und Kunststoffformteilen. Unter dem Namen „Hercules Sägemann“ werden immer noch sehr hochwertige Kämme aus Naturkautschuk auf traditionellen Maschinen produziert.
Die noch in Barmbek verbliebenen Gebäude der NYH stehen heute unter Denkmalschutz. In der „Neuen Fabrik“ ist das Museum untergebracht; die Werkstätten befinden sich im ehemaligen „Kesselhaus“ von 1897. Räume der „Alten Fabrik“ (1872) stehen für Veranstaltungen zur Verfügung. Das „Torhaus“ beherbergt ein Café, die „Zinnschmelze“ das Stadtteilkulturzentrum; beide Gebäude stammen von 1885.
Es ist dem in der NYH tätigen Ingenieur Ernst A. Wolffson zu verdanken, dass die Sammlung zu den Firmen NYH, Traun und Gummi-Kamm dem Museum der Arbeit übergeben wurde. In einer ständigen Ausstellung werden zahlreiche Exponate zur Gummiherstellung, zu Produkten und zur Firmenge-schichte präsentiert.
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Wolfgang Stiller/Dieter Thiele (Hrsg.): Stadtteilbilderbogen. Hamburger Quartiere und ihre Geschichte. Hamburg 1985
A.II.1/049
Jürgen Ellermeyer: „Gib Gummi! - Kautschukindustrie und Hamburg“, Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Museum der Arbeit. Hamburg 2006
A.VI.4/012
New_York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie, Jubiläumsschrift zum 100jährigen Firmen-jubiläum. Hamburg-Harburg 1971
A.VI.5/24
Gabriele Franke/Dieter Thiele: „Von Gummiwerk und Gummiwerkern“, Beiträge zur Geschichte der NYH, hrsg. von der Geschichtswerkstatt Barmbek. Hamburg-Barmbek 1994
A.VI.5/240
Gudrun Wolfschmidt (Hg.): Wissen aus 400 Jahren Chemie in Hamburg. Hamburgs Geschichte einmal anders - Entwicklung der Naturwissenschaften, Medizin und Technik, Teil 4. Nuncius Hamburgensis - Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften, Band 25. Hamburg 2016
A.XI.2/32a
Weitere verwendete Quellen:
Flyer des Freundeskreises des Museums der Arbeit
Internetseite des Museums der Arbeit (shmh.de/de/museum-der-arbeit)
Firmenseite der New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie (nyhag.de)
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