Griff in die Geschichte (35)
Von "Idioten" zu Kunden – Zum 200. Geburtstag von Heinrich Matthias Sengelmann
von Charlotte Wilken
Vor 200 Jahren, am 25. Mai 1821, wurde Heinrich Matthias Sengelmann geboren, der Gründer der Alsterdorfer Anstalten. Die Alsterdorfer Anstalten kennt vermutlich jeder Hamburger, der Name von Sengelmann ist dagegen weniger bekannt; Grund genug sich mit ihm als Menschen zu beschäftigen. Ob es daran liegt, dass sein Name in der Bezeichnung der Alsterdorfer Anstalten nicht auftaucht, wie wir es bei Wichern (Wichern-Haus) oder Bodelschwingh (Bodelschwingh-Haus) kennen?
Geboren wurde er in Hamburg als Sohn eines Gastwirtes und Viehhändlers. Er war das einzige Kind aus der zweiten Ehe seines Vaters. Nach dem Abitur im Johanneum studierte er in Leipzig und Halle an der Saale Philosophie und Theologie. Seine erste Gemeinde war ab 1845 in Hamburg-Moorfleth. Obgleich selber kinderlos, hat er sich von Beginn an durch die Situation der Kinder berühren lassen, die früh zur Arbeit herangezogen wurden. So kaufte er ein Haus, in dem er eine Arbeitsschule einrichtete. Hier wohnten und lebten Kinder, die nicht zuhause betreut werden konnten. Als er 1852 als Pfarrer in der Michaelisgemeinde gewählt wurde, lernte er bei seinen Wegen durch die Gemeinde das Elend der Kinder in der Stadt kennen. In der Literatur wird immer wieder erwähnt, dass seine Predigten sehr beliebt waren, sowohl in Moorfleth als auch später. Sengelmann scheint bei seinen zahlreichen Kontakten mit der Arbeiterbevölkerung seines Wohngebietes einschneidende Erfahrungen insbesondere mit körperlich und geistig behinderten Kindern gemacht zu haben, so dass deren Förderung ihm zur Aufgabe wurde. 1860 dann erwarb er ein Grundstück im Alstertal und konnte seine „Anstalt für Blödsinnige und Idioten“ gründen, die bereits 1862 das erste Mal erweitert wurde. Das Wort „Idiot“ verwendet Sengelmann nicht im diskriminierenden Sinne, wie wir es heute kennen, sondern eher im Sinne von „Isolierter“. Seine Pfarrstelle gab er auf, um sich ganz der Behindertenarbeit widmen zu können.
Für uns Heutige ist die Sprache, mit der über die Kinder gesprochen wurde, befremdlich. So schreibt er z.B. „Hamburg hat für die Ärmsten der Armen noch nichts getan!... Wer sind diese? – Ich meine jene armen Kinder, die mit fast verwischtem Gottesebenbilde, den Tieren ähnlich, eine Plage ihrer Eltern, ein Gegenstand der Furcht für die Nachbarn - zumeist in den Hütten der Armut heranwachsen, die armen Blödsinnigen und Idioten, in deren Seelen kein Strahl der göttlichen Wahrheit fällt“ (A.XIV.2/1497, S. 10)
In diesen Sätzen wird alles ausgesagt, was Sengelmann ausmacht: Die tiefe Religiosität, ein starkes Mitgefühl, ein deutliches Benennen der Situation und auch gleichzeitig die Beschreibung der Reaktion der Umwelt auf diese Kinder. In den Zitaten, die ich gefunden habe, wird niemals die Umwelt beschuldigt, die Kinder schlecht zu behandeln, die Art und Weise des Umgangs mit den Kindern wird lediglich festgestellt ohne moralische Bewertung. Er weiß wohl, dass es die Armut ist, die es unmöglich macht, dass die Eltern mehr für die Kinder tun. Er wollte die Kinder so weit fördern wie es eben möglich ist. Dieser Ansatz war keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: zur damaligen Zeit sah man in einem Idioten einen Idioten, da ließ sich nichts machen. Was für uns heute selbstverständlich ist: Auch psychisch und geistig Behinderte so weit wie möglich zu fördern, war zu Sengelmanns Zeiten undenkbar. Dass sich dieses durchsetze, ist auch ihm zu verdanken. Sein christliches Menschenbild bedeutete Solidarität mit allen Schwachen der Gesellschaft, es bedeutete die Förderung dieser Schwachen.
Im Jahr 1874 reiste Sengelmann durch Süddeutschland und gründete die „Konferenz der Idiotenheilpflege“. Auch für die nationale und internationale Vernetzung der Arbeit mit geistig Behinderten und psychisch Kranken hat Sengelmann sich mit Erfolg eingesetzt. Gleichzeitig hat er auf seinen Reisen für Spenden geworben, und das mit einigem Erfolg, denn die Finanzierung der Alsterdorfer Anstalten war nur auf der Grundlage von Spenden gesichert. So entfaltete er eine rege Reisetätigkeit und hat damit auch weit über die Grenzen Hamburgs hinaus gewirkt.
Die Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf, mit zahlreichen Teil- und Tochterunternehmen) haben eine wechselvolle Geschichte, in der sich die Höhen und Tiefen deutscher Geschichte widerspiegeln. In den 20er Jahren setzte sich vermehrt die Ideologie eines Sozialdarwinismus durch, die in den Deportationen zahlreicher betreuter Personen im Dritten Reich ihren Höhepunkt fand – und die eine grausame Pervertierung des Denkens von Sengelmann war.
Auch nach dem zweiten Weltkrieg, in dem ein großer Teil der Gebäude zerstört worden war, liest sich die Geschichte der Alsterdorfer Anstalten wie eine Geschichte des Umgangs mit psychisch Kranken in der Bundesrepublik, lange noch gab es noch Schlafsäle, erst später dezentrale kleinere Wohneinheiten.
Und typisch für die heutige Zeit: Aus den Patienten sind auf der Homepage inzwischen „Kunden“ geworden (so wie es PR-Agenturen heute empfehlen, hoffentlich nicht im Sinne von „Werben und Kassieren“).
Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek:
Torsten Schweda: Rezension zu: Bodo Schümann; Heinrich Matthias Sengelmann als Stifter und Anstifter der Behindertenarbeit. Münster u.a.: 2001, in: ZHG 88 (2002), 272-275.
A.I.2 / 198
Briefe und Bilder aus Alsterdorf. Bände 1948–1966 (Herausgeber: Alsterdorfer Anstalten).
A.VII.3.1
Heinrich Sengelmann: Die Alsterdorfer Anstalten in Bild und Wort. Norden 1891.
A.VII.3 / 150
Hundertfünfzigster Geburtstag D.Dr. Heinrich M. Sengelmanns. Herausgeber: Direktor Pastor Hans-Georg Schmidt. Hamburg 1971.
A XIV 2 / 1497
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