Griff in die Geschichte (30) 

Gesetz betreffend das Unterrichtswesen 1870

 

von Charlotte Wilken

 

Vor 150 Jahren, am 11. November 1870, wurde in Hamburg das „Gesetz betreffend das Unterrichtswesen“ erlassen. Dieses Gesetz von 1870 regelt zwar die Lehrpläne und die Organisation der Schulen, ist aber, wie der Name sagt, ein Unterrichtsgesetz, d.h. aus ihm ergab sich keine Schulpflicht, sofern der Unterricht durch private Initiativen – z.B. Privatlehrer – erteilt wurde. So heißt es in dem Unterrichtsgesetz: „Eltern, Vormünder oder Pflegeeltern (…) müssen den Nachweis liefern, daß die Kinder den notwendigen Unterricht bekommen“. Es wurden also auch bestimmte Ansprüche an die Lerninhalte und die Qualität des privaten Unterrichts gestellt.
Für die meisten wird dieses Gesetz wie ein Gesetz zur Schulpflicht gewesen sein, denn nur sehr wenige konnten Privatlehrer bezahlen oder ihre Kinder anderweitig unterrichten lassen. Hamburg war das letzte deutsche Land, das die Unterrichtspflicht einführte. Das bedeutete nicht, dass nicht schon vorher Kinder unterrichtet wurden, aber es gab keine Verpflichtung, am Unterricht teilzunehmen.

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Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Forderung nach Schul- bzw. Unterrichtspflicht erstaunlich alt ist. Bereits Luther hat Schulpflicht gefordert. Das erste Land, das sie dann einführte, war im Jahr 1524 das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken, allerdings nur für Jungen. Schon 1763 wurde in Preußen die Schulpflicht eingeführt, jedoch nicht überall durchgesetzt. Insbesondere auf dem Land gingen Kinder nicht zur Schule, zum einen konnte auf die Arbeitskraft der Kinder oft nicht verzichtet werden, zum anderen wurde auch die notwendige Infrastruktur nicht zur Verfügung gestellt.

Ein kurzer Blick auf die Unterrichtssituation in Hamburg vor der Verabschiedung des Gesetzes 1870 zeigt, dass schon viele Kinder Unterricht erhielten, z.T. in Sonntagsschulen, aber auch in Ganztagsschulen. Für in Fabriken arbeitende Kinder gab es Unterricht in den Abendstunden. Es wurden „Armenschulen“ eingerichtet, die Kinder höherer Stände erhielten Unterricht von Privatlehrern. Der Staat bzw. die Obrigkeit hatten von Anfang an ein Wörtchen mitzureden, wie das Beispiel einer Armenschule zeigt, die im Mai 1683 genehmigt wurde und die unter der Aufsicht von zwei Mitgliedern des Rates, zwei Priestern und zwei Bürgern stand. Sie war für Jungen und Mädchen.

Staatliche Regelungen über das Schulwesen gab es also bereits sehr viel früher. So war in der Repräsentativverfassung von 1860 festgelegt, dass der Staat die Oberaufsicht über das Unterrichts- und Erziehungswesen hatte.
Eigene Schulgebäude gab es allerdings nicht. Der Unterricht fand häufig in Räumen der Kirchen statt, und wurde teilweise von Küstern durchgeführt, erst sehr viel später entwickelten sich eigene Ausbildungsgänge für Lehrer.
Die Diskussion um das 1870 verabschiedete Gesetz betreffend das Unterrichtswesen hatte einen längeren Vorlauf:
Ende 1867 überwies ein Bürgerschaftsausschuss dem Senat eine Vorlage. Die Lerninhalte waren hochgesteckt: Englisch und Französisch sollten gelehrt werden. Religion sollte zwar Unterrichtsfach sein, aber der Einfluss der Kirche stark zurückgedrängt werden. Der Senat veränderte den Vorschlag (z.B. entfielen die beiden Fremdsprachen), der am 2.11.1870 von der Bürgerschaft mit mehreren Änderungen angenommen und neun Tage später vom Senat verkündet wurde. Damit waren alle Kinder zwischen 6 und 14 Jahren unterrichtspflichtig, die Trennung von Schule und Kirche war besiegelt.
Die Volksschulen waren in der Regel siebenstufig. Pro Klasse waren 50 Kinder vorgesehen, das Schulgeld nach dem Einkommen der Eltern gestaffelt. Welche Fächer unterrichtet wurden, war ebenfalls im Gesetz festgelegt. Die damaligen Diskussionen um das Unterrichtsgesetz muten auch heute noch aktuell an: Strittige Punkte waren z.B.
- Gemeinsamer Unterricht aller Kinder, unabhängig vom sozialen Status?
- Religionsunterricht?
- Schulgeld und Schulgeldbefreiung?
Ein Ziel der Unterrichtspflicht war ausdrücklich, die Chancengleichheit aller Kinder herzustellen.

gig29 Wapen2Die Organisation der Verwaltung zur Durchsetzung der gesetzlichen Bestimmungen war akribisch geregelt: So war die Einrichtung einer Oberschulbehörde vorgesehen, die Einrichtung einer Schulkommission und die Schulsynode. Die Oberschulbehörde bestand aus drei Mitgliedern des Senates, sechs von den Bürgerschaftsmitgliedern gewählte Personen, davon höchstens zwei aus dem “Lehrerstande”, und weitere Vertreter anderer Schultypen. Die Schulkommissionen waren für verschiedene Stadtteile zuständig, es gab sechs regionale Gebiete in Hamburg. Die Schulsynode war die Vertretung der fest angestellten Lehrerschaft mit beratender Stimme gegenüber der Oberschulbehörde und mit Antragsrecht. Zwar gab es einige kleinere Novellierungen, aber erst zu Beginn der Weimarer Republik stand auch das Unterrichtsgesetz wieder zur Diskussion. Jetzt erst wurde die allgemeine Schulpflicht durch die Weimarer Verfassung eingeführt, ebenfalls ab 1919 die Berufsschulpflicht. Die allgemeine Schulpflicht bedeutete, dass die ersten vier Jahre die Kinder aller sozialen Schichten gemeinsam unterrichtet wurden. So gab es in Hamburg nach dem ersten Weltkrieg die obligatorische 4-jährige Grundschule für alle Kinder, das Schulgeld wurde erlassen – wie es in den umliegenden Gemeinden zum Teil schon früher geschehen war. Die Hamburger Schulen hatten ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau im Volksschulbereich.
Der Arbeiter- und Soldatenrat setzte 1919 die Abschaffung des Religionsunterrichts durch, der allerdings 2 Jahre später durch das Reichsgericht wieder eingeführt wurde.
Nach dem „Gesetz über die Selbstverwaltung an Schulen“ wurden die Schulleiter durch den Lehrkörper und Elternrat gewählt. Den Schulen wurde eine weitgehende Selbstverwaltung unter Beteiligung der Eltern zugestanden sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit für Lehrer und Kinder.
Zusammen mit den gesellschaftlichen Umwälzungen nach dem ersten Weltkrieg wurden auch in der
Pädagogik vermehrt Reformen durchgeführt. 1919/20 kam es zur Gründung von Versuchsschulen, in denen z.B. die Prügelstrafe und das Sitzenbleiben abgeschafft wurde. Überhaupt waren die 20er Jahre in der Pädagogik eine sehr experimentierfreudige Zeit, auf die sich spätere Pädagogen immer wieder berufen haben.
Bei der Lektüre der unten angegebenen Texte und auch weiterer Texte aus der Bibliothek des VfHG fällt auf, dass die Fragen, die auch heute immer wieder gestellt werden, schon von 150 Jahren die Pädagogen beschäftigt haben und der Wunsch bestand, durch Bildung eine gerechtere Welt zu erreichen. Forderungen, die uns so modern anmuten, wie „Chancengleichheit“ wurden schon vor 150 Jahren aufgestellt, inwieweit sie durch die Einführung der Schulpflicht verwirklicht wurden, scheint fraglich. Aber sicher ist die Chancengleichheit durch die Schulpolitik gefördert worden, auch wenn noch eine Menge zu tun blieb.
Am Rande sei bemerkt: Die Schulpflicht für ausländische Kinder wurde erst in den 1960er Jahren eingeführt, für Kinder von Asylbewerbern in Nordrhein-Westfalen als letztem Bundesland erst 2005.

 

 

Veröffentlichungen zum Thema in unserer Bibliothek / Zum Weiterlesen empfohlen:

 

Unter der Signatur A.XI.03 a finden Sie zahlreiche Literatur über einzelne Schulen in Hamburg, allerdings fast ausschließlich höhere Schulen
Unter A.II.4 a-g (einzelne Stadtteile) finden Sie Literatur auch über Grund-/Volksschulen der einzelnen Stadtteile

 

Renate Hauschild-Thiessen: Ein Beitrag zur Geschichte der höheren Mädchenbildung in Hamburg. In: ZHG, Band 58, Hamburg 1972, S. 1-44.
A.I.2 / 198

 

Hans-Peter de Lorent: Schule ohne Vorgesetzte. Geschichte der Selbstverwaltung der Hamburger Schulen von 1870 bis 1986. Hamburg 1992.
A.XI.3a / 39

 

Hartwig Fiege: Geschichte der Hamburger Volksschule. Hamburg 1970.
A.XI.3a / 41

 

Das Unterrichtswesen des Hamburgischen Staates. Eine Sammlung der geltenden Gesetze und Verordnungen. Hamburg 1884 (hier der vollständige Text des Gesetzes von 1870).
A.XI.3 a / 112

 

Rüdiger Otto: Geschichte des Hamburger Unterrichtswesens – nebst Anhang: Wagner: Geschichte des Altonaer Schulwesens. Hamburg 1896.
A.XI.3 a / 145

 

 

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